Angst ist ein notwendiger und normaler Affekt. Sie hat die wichtige Aufgabe, als ein die Sinne schärfender Schutzmechanismus, bei tatsächlicher oder vermeintlicher Gefahrensituation eine angemessene Gegenreaktion (etwa Flucht) einzuleiten. Angst kann sowohl bewusst als auch unbewusst wirken und ist die gelernte Verbindung von spezifischen Hinweisreizen in Ereignissen und deren schädlichen Konsequenzen. Das emotionale Gedächtnis spielt hierbei eine wichtige Rolle.
In leichteren Graden tritt Angst als Gefühl, noch etwas tun zu müssen, etwas noch nicht fertig zu haben, als Gefühl des Suchens, des Klarwerden Mögens auf.
Jeder Mensch kennt Ängste, darum reagiert man auch oft überrascht auf die heftigen Angst-Reaktionen von Borderlinern, die extrem übersteigert scheinen. Von einem Moment auf den anderen reagiert der Borderliner extrem impulsiv, abweisend und panisch. Oft ist dafür kein, von aussen sichtbarer, Grund vorhanden.
Ursache für diese plötzlichen Stimmungswechsel sind die frei flottierenden Ängste, unter denen Borderliner leiden. Unter „Frei flottierende Angst“ wird jene Angst bezeichnet, die ohne erkennbaren Grund von einer Sekunde auf die andere eintritt.
Die (frei flottierende, diffuse) Angst ist der zentrale Affekt bei Borderline-Störungen.
Birger Dulz
Diese Ängste übersteigen „normale“ Angstzustände extrem und gehen eher in Richtung Panikattacken, vergleichbar mit dem Gefühl des Ertrinkens. Nach Volker Faust (1995) grenzt sich die heftige, frei flottierende Angst gegen die „vielfältigen“ angemessenen „Ängste“ folgendermaßen ab:
- die „Unangemessenheit“ der Angstreaktion gegenüber den Bedrohungsquellen
- die Symptomausprägung, wie Angstintensität, Angstpersistenz, abnorme Angstbewältigung und subjektiver und körperlicher Beeinträchtigungsgrad.
Die frei flottierende Angst wird als unvermeidbar, unkontrollierbar, von existentieller Bedrohlichkeit wahrgenommen und löst beim Betroffenen impulsive Abwehrmechanismen aus.
Angehörige und Partner nehmen sie bei Borderlinern i.d.R. als heftige unangemessene Wut wahr, die gegen sie gerichtet scheint. Otto Kernberg sah in dieser Wut sogar den zentralen Aspekt der Borderline Persönlichkeitsstörung. Birger Dulz hat 1999 in seiner Antithese für mich nachvollziehbar aufgezeigt das diese Wut jedoch erst durch die frei flottierende Angst ausgelöst wird.
Diese Ängste sind bereits in der frühsten Kindheit entstanden und haben im Laufe der Zeit durch re-traumatisierung an Intensität zugenommen. Sie lösen bei Betroffenen ein so hohes Stressniveau aus, dass ein „gesunder“ Umgang damit schier unmöglich scheint. Auch wenn der Auslöser, soweit er überhaupt wahrnehmbar ist, nichtig erscheint empfindet der Borderliner die Situation, bedingt durch seine Angst als existenzbedrohend und handelt dementsprechend heftig.
Partner von Borderlinern werden mit dieser frei flottierenden Angst besonders häufig in Beziehungen konfrontiert.
Wie oben beschrieben treten die Ängste spontan und nicht immer aus ersichtlichem Grund auf, darum gibt es die unterschiedlichsten Einstiegspunkte.
Beispiel:
Der Borderliner befindet sich in einer intensiven, symbiotischen Verbindung und fühlt sich mit seinem Partner emotional verbunden. Alles ist toll…:
- …dann kommt plötzlich der Gedanke, was passiert wenn sich das nun ändert? Wenn der Partner plötzlich wieder geht und der Borderliner allein mit seinen ganzen Emotionen zurück bleibt? (=Angst vor dem Verlassenwerden)
- … oder es kommt der Moment wo der Betroffene merkt das man sich so sehr mit dem anderen Menschen verschmolzen fühlt, dass man nicht mehr unterscheiden kann wo man selbst endet und der Partner anfängt (=Angst verschlungen zu werden)
- …oder dem Partner wird die Intensivität zu viel, was anfangs noch schön war, wird viel zu fordernd und er wünscht etwas mehr Eigenständigkeit, was der Betroffene als Bedrohung wahrnimmt. (= Angst vor dem Verlassen werden)
- … oder der Betroffene merkt, dass ihm die Nähe zu viel wird, dass er Abstand braucht und den Partner als klammernd wahrnimmt. (= Angst vor dem Verschlungen werden)
- …oder der Partner konfrontiert den Betroffenen mit Dingen, die er an ihm wahrnimmt. (=Angst vor dem Verschlungen werden + Angst vor dem Verlassenwerden gleichzeitig)
- … oder viele andere Gründe die diese, oder ähnliche Ängste auslösen.
Diese frei flottierende Angst kann leider nicht ausgeredet und somit beseitigt werden. Sie ist ständiger Begleiter des Borderliners und bleibt das auch. Echtes Vertrauen wird in der Regel nicht da sein. Zumindest nicht in dem Maße wie andere Menschen das kennen. Dazu sind Borderliner aufgrund ihres bereits Früh entwickeltem Misstrauen nicht fähig. Sind die Ängste mal da, fressen sie sich tief in einen rein… hier kommt es nun darauf an, wie gut man mit ihnen umgehen kann. Manche Betroffene können diese Ängste besser aushalten, manche schlechter. Und die Reaktion darauf ist auch sehr unterschiedlich. Fast ebenso unterschiedlich wie die Gründe warum die Ängste kommen.
Ausgelöst durch diese frei flottierende Angst entsteht evtl. beim Betroffenen das Gefühl, dass die Beziehung im Rückblick gar nicht so toll ist, wie zunächst angenommen, bzw. es fühlt sich auch nicht toller an als der Rest des Alltags. So gesehen gibt es dann für ihn auch keinen Grund, die Beziehung zu erhalten. Im Gegenteil, durch Trennung beseitigt der Borderliner scheinbar die Ursache für die in ihm entstandenen, existenzbedrohenden Ängste.
Meist geht dem aber ein großer Zwiespalt voraus. Eine extreme Zerrissenheit, wo der Betroffene zwischen dem Gefühl „ich muss weg“ und „ich muss bleiben“ hin und her gerissen wird. Dieser Zustand ist garstig. Dies ist der Moment wo man das Außenstehender das Gefühl hat, der Borderliner wechselt alle Minute seine Stimmung… das ist ja auch so.
Sehr häufig kommt es dann wirklich zur Trennung, weil dieses Gefühl der Zerrissenheit nicht auszuhalten ist und eine Trennung als einzige Möglichkeit erkannt wird, die er wirklich selbst beeinflussen kann.
Was sie noch interessieren könnte:
Abwehrmechanismen von Borderlinern.
Borderline Symptom: Die Angst davor verlassen zu werden.
Weitere Links zum Thema (ausserhalb von Grenzwandler.org):
Dr. Birger Dulz: Wut oder Angst – welcher Affekt ist bei Borderline-Störungen der zentrale?
Prof. Dr. med. Volker Faust: Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)