Wenn man sich lange mit der Borderline-Erkrankung beschäftigt, wird man immer wieder auf verzweifelte Angehörige, Partner und Ex-Partner von vermeintlich Betroffenen treffen, die sich die Frage stellen: „Ist es Borderline?“
Es ist natürlich verständlich, dass man Antworten für das Verhalten seines Gegenübers sucht, vor allem wenn eine offene Aussprache nicht möglich ist. Wenn man plötzlich vor dem Scherbenhaufen einer gescheiterten Beziehung steht, will man verstehen warum das Schöne was man geneinsam erlebt hat plötzlich nicht mehr da ist. Borderline scheint dabei für viele eine logische Erklärung dafür zu sein.
Entgegen anderslautender Meinung einiger Laien-Experten ist die Diagnose Borderline jedoch bei weitem nicht so einfach zu stellen wie man glaubt. Auch Fachpersonal wie Psychologen, Psychiater, Therapeuten oder Pflegekräfte können das nicht sofort auf den ersten Blick erkennen.
Es reicht nicht aufgrund Diagnosekriterien nach ICD10 oder DSM IV Ähnlichkeiten festzustellen, denn wenn man sich die verschiedenen Persönlichkeitsstörungen anschaut wird man schnell feststellen, dass sie sich in vielem sehr ähnlich sind und sich teilweise auch in ihren Symptomen überschneiden.
Grundsätzlich muss ein Betroffener zuerst einmal die Diagnosekriterien einer Persönlichkeitsstörung aufweisen. Selbst das ist nicht so einfach zu erkennen, da es sich bei den Symptomen um Verhaltensmuster handelt, die absolut menschlich sind und die vermutlich jeder in irgendeiner Form kennt. Desweiteren kann es im Verlauf eines Lebens Situationen geben, wo bestimmte Verhaltensmuster akzentuierter auftreten und deutlich stärker in den Vordergrund treten. Zum Beispiel in bestimmten Lebenskrisen wie Jobverlust, das Ende einer Beziehung oder der Tod einer nahestehenden Person.
Wenn es sich wirklich um eine Persönlichkeitsstörung handelt, sind die Symptome nicht nur temporär vorhanden oder treten nach langer Zeit plötzlich auf, sondern begleiten einen das ganze Leben.
Beispiel:
Wir hatten über 10 Jahre eine harmonische Beziehung, lebten glücklich zusammen, plötzlich wurde der Partner/die Partnerin abweisend, veränderte sich und es kam unerwartet zur Trennung. Vermutlich hat sie plötzlich Borderline bekommen.
Hier ist die Wahrscheinlichkeit das es sich tatsächlich um Borderline handelt eher gering. Eine Persönlichkeitsstörung entwickelt sich bereits in frühster Kindheit und bleibt ab da beständig vorhanden.
Ein weiterer wichtiger Punkt der für eine Persönlichkeitsstörung spricht ist der Leidensdruck. Betroffene Borderliner leiden selbst am meisten unter ihrer Störung. Auch wenn durch Abwehrmechanismen versucht wird dieses Leid zu bekämpfen macht sich dieses Leid bei Betroffenen (Borderlinern) spürbar bemerkbar.
Beispiel:
Der Borderliner lief immer glücklich und zufrieden durchs Leben, Probleme konnten problemlos beseitigt werden und danach lebte er genau so fröhlich weiter wie zuvor. Auch bei der Trennung war es so. Nach der Trennung lebte der Borderliner glücklich weiter, scheinbar ohne darunter zu Leiden.
Es kann sein das hier das tatsächliche Leid des Borderliners nicht gesehen wird, vielleicht auch weil der Betroffene versucht es nicht zu zeigen. Es ist auch entscheidend von welcher Seite die Trennung ausging. Wenn man (egal ob begründet oder unbegründet) das Gefühl hatte unter einer Beziehung zu leiden, wird eine Trennung zu Beginn erst mal als Befreiend wahrgenommen.
Persönlichkeitsstörungen wirken sich nicht ausschließlich zielgerichtet auf einen Lebensbereich oder Person aus. Eine Person die unter einer Persönlichkeitsstörung leidet hat diese Probleme in allen Bereichen ihres Lebens und Personenunabhängig, auch wenn es nahestehende Personen vielleicht deutlicher spüren.
Beispiel:
In der Beziehung war es nie möglich den Borderliner zu umarmen und zu küssen, da er Nähe nicht ertragen konnte. Nun ist ein neuer Partner da und da geht es.
Dies spricht definitiv nicht für Borderline. Wenn ich Probleme mit Nähe habe, habe ich Probleme mit Nähe. Das liegt nicht an mein Gegenüber, sondern an mir. Eine so heftige Wesensänderung ist für Borderline uncharakteristisch.
Wie beschrieben sind Gefühle und Verhaltensweisen die für eine Borderline-Störung sprechen können menschlich und auch bei nicht Betroffenen Menschen vorhanden. Deswegen ist auch die Intensität und Akzentuierung der Symptome ausschlaggebend für den begründeten Verdacht einer Persönlichkeitsstörung. Die Probleme müssen so stark ausgeprägt sein das sie sich weitreichend in die Lebensgestaltung auswirken.
Beispiel:
Die Verlustangst ist so extrem, dass ich an nichts mehr anderes denken kann als das ich verlassen werde und der geliebte Mensch nicht mehr wieder kommt. Alles andere ist unbedeutend, diese Angst liegt über allem. Ich kann nicht arbeiten deswegen, kann mich nicht mehr um meinen Haushalt kümmern sonder bin nur noch am Leiden.
Hier ist die Panik die durch die Verlustangst ausgelöst so heftig, dass sie sich im gesamten Leben bemerkbar macht. Es muss keine bestimmte Situation vorliegen die diese Verlustangst begründen würde, sondern sie ist einfach da, obwohl eigentlich alles in Ordnung ist.
Die charakteristischen Merkmale einer Persönlichkeitsstörung sind also:
- Die Probleme sind beständig.
- Es gibt einen Leidesdruck wegen der Probleme.
- Die Probleme wirken sich auf alle Lebensbereiche aus.
- Die Probleme übersteigen die übliche Norm bei weitem.
Wenn diese Kriterien nicht zutreffend sind, liegt sehr wahrscheinlich keine Persönlichkeitsstörung – und somit auch keine Borderline-Störung vor.
Erst wenn diese allgemeinen Kriterien vorliegen macht eine weitere Beachtung der typischen Symptome einer spezifischen Persönlichkeitsstörung Sinn.
Wie erwähnt sind sich die einzelnen verschiedenen Persönlichkeitsstörungen auf dem ersten Blick, wenn man nur die Symptome betrachtet sehr ähnlich. Häufig ist es nur eine Akzentuierung die letztendlich eine bestimmte Diagnose ausmacht. Wenn man sich nur die Diagnosepunkte, oder typische Verhaltensweisen einer bestimmten Störung betrachtet, wird man schnell glauben eine bestimmte Person darin wieder zu finden, doch vieles was man glaubt einer bestimmten Krankheit zuordnen zu können wird man auch in anderen Störungen wiederfinden.
Beispiel:
Eine Person isoliert sich, verlässt das Haus ungern und mag nicht unter Menschen.
Dies könnte für einige unterschiedliche Phobien sprechen, aber auch für Depressionen, die meisten unterschiedlichen Persönlichkeitsstörungen, Zwangsstörungen und sogar für einige körperliche Erkrankungen.
Aus diesem Grund wird bei der Diagnosestellung der Blick nicht nur auf eine spezifische Störung gerichtet, sondern man betrachtet sich alle möglichen Ursachen und sucht nach Ausschlusskriterien.
Beispiel:
Eine Person begegnet seinem Gegenüber aggressiv, gefühlskalt und Rücksichtslos. Wenn das auftritt kann man nicht mit der Person reden, eine Aussprache oder Klärung einer Situation ist nicht möglich. Man empfindet sich im Kontakt abgewertet und persönlichen Angriffen ausgesetzt.
All das könnte für eine dissoziale Persönlichkeitsstörung sprechen. Charakteristisch für eine Dissoziale PS ist jedoch auch keine Schuld empfinden zu können und ein gestörtes Rechtsempfinden aufzuweisen. Wenn die oben beschriebene Person also trotzdem auch Schuld empfinden kann und sich an Bestehende Ordnung und Recht hält, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit keine dissoziale Persönlichkeitsstörung vorliegen.
Allein schon aufgrund dieser Komplexität ist es verständlich das Laien dies nicht wirklich Beurteilen können. Erschwerend kommt noch hinzu das Borderline so gut wie nie allein auftritt. Die Tendenz geht dahin überhaupt erst von Borderline zu sprechen, wenn mindestens noch eine weitere Persönlichkeitsstörung und weitere Begleiterkrankungen vorliegen.
Menschen die sich die Frage stellen ob ihr Gegenüber an Borderline leiden suchen häufig Therapeuten auf um dort eine Antwort auf diese Frage zu erhalten. Meist werden ihre Erwartungen dabei enttäuscht, weil ein guter Therapeut keine Diagnosen über nicht anwesende Dritte stellen wird. In seltenen Fällen lassen sich Therapeuten vielleicht zu vorsichtigen Meinungen hinreißen, wobei das sehr fraglich zu betrachten ist.
Zum einen, weil das was man über Verhaltensweisen anderer erzählt immer auch von der eigenen subjektiven Wahrnehmung geprägt ist, aber auch weil zur tatsächlichen Bewertung eines Menschen dazugehört auch selbst mit ihm in Kontakt zu stehen. Auch die beste Beschreibung einer Person kann den persönlich gewonnenen Eindruck nicht ersetzen.
Ist die betroffene Person gepflegt, oder lässt sie sich eher gehen? Wirkt sie eher extrovertiert oder introvertiert? Kann sich das Gegenüber klar und verständlich äußern, oder ist sie im Kontakt eher fahrig und springt beim Erzählen von einem Thema zum anderen… Dies und noch vieles mehr ist für eine tatsächliche Einschätzung eines Menschen, neben all den beschriebenen Symptomen sehr wichtig und nur im Ganzen Betrachtet ergibt sich ein einigermaßen objektives Bild.
Wenn man sich laienhaft mit dem Krankheitsbild Borderline beschäftigt, kann es schnell passieren, dass man seinem Gegenüber den Stempel Borderline aufdrückt. Mehr als häufig unbegründet, da entscheidende Diagnosekriterien fehlen. Man sollte nicht vergessen, dass es sich bei Borderlinern um eine eher überschaubare Menge von Personen handelt. Neuste Erkenntnisse gehen von ca. 3% der Bevölkerung aus. Es ist also tendenziell eher selten auf jemanden zu treffen der diese Diagnose aufweist, selbst wenn man eine undefinierte Dunkelziffer eventuell unerkannter Betroffener mit berücksichtigt.
Es liegt in der Natur des Menschen Antworten auf ungeklärte Fragen finden zu wollen. Somit ist es durchaus verständlich wissen zu wollen warum eine Beziehung scheiterte. Dabei ist man jedoch leider auch der Bereitschaft des Gegenübers angewiesen, sonst wird man über den Status der Vermutung nicht hinwegkommen. So sehr der Wunsch nach Antworten verständlich ist, so selten ist es Zielführend sich mit einer eventuellen Störung eines vermeintlich Borderline-Erkrankten auseinander zu setzen und darin die Lösung für seine Beziehungsprobleme zu suchen. Das kann nur dann funktionieren, wenn beim Betroffenen die Bereitschaft vorhanden ist darüber zu sprechen. Dies setzt jedoch voraus das sich der Betroffene Einsichtig gegenüber seiner Probleme zeigt, was häufig nicht der Fall ist, schon gar nicht nach gescheiterten Beziehungen.
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